„Wer im Ried morgens losläuft, den sieht man am Abend noch laufen.“
So scherzte meine Mutter gerne, sie meinte das ein wenig spöttisch, denn sie kam aus dem Odenwald. Dort ist man es gewohnt, einen Spaziergänger auf dessen Weg nach wenigen Minuten hinter einem Hügel verschwinden zu sehen und nicht zu wissen, wohin er tatsächlich geht.
Wenn ich heute auf meinem Lebensweg nach hinten schaue, bin ich wohl auch sehr schnell aus Mutters Blickfeld verschwunden und wir wussten beide nicht, wohin es mich führt. Weil ich die Richtung gewechselt habe, mir ein neues Ziel gesucht habe, überraschend abgebogen bin oder einfach spontan eine Pause eingelegt habe. Mein Weg war verschlungen, null stringent, und von außen sicher nicht immer nachvollziehbar.
Aber ich war immer auf meinem Weg! Und auf den vielzähligen, vermeintlichen Umwegen hat das stattgefunden, was mein Leben reich und bunt hat werden lassen. Manche Anekdote ist so entstanden. Ich habe so viele Erfahrungen sammeln dürfen. Schlechte, gute, hervorragende, niederschmetternde, belebende. In der Summe sind sie ein einzigartiges Geschenk des Lebens und haben mich reifen lassen und – ich traue mich das jetzt zu sagen – etwas weiser gemacht.
Wenn Sie in einer Situation sind, die Sie jetzt nicht verstehen, wenn sie – vermeintlich – falsch abgebogen sind oder sich in einer Sackgasse wähnen, möchte ich Sie ermuntern, Ihre Situation neu zu denken. Als unvermeidlichen Schlenker, lehrenden Abstecher oder sportliche Extrameile. Aber garantiert als unverzichtbare Episode, die Sie vermutlich erst im Rückspiegel schätzen können.
Ein Lob auf die gewundenen Wege, die glitschigen Stolpersteine, die Untiefen und die Abenteuer des Lebens. Sie erst machen uns einzigartig und reich.
Und, liebe Mama, ein Lob auf den Odenwald, wo der Weg hinter dem nächsten Hügel möglicherweise ein neues, viel schöneres Ziel erkennen lässt.